Systemsprenger

Kinostart: 19.09.2019 | Laufzeit: 118 Minuten | FSK: 12 Land: DEU | Genre: Drama | Originaltitel: Systemsprenger


Kritik

Der deutsche Film besitzt seit vielen Jahren einen eher zweifelhaften Ruf. Dafür besetzen zu viele seichte Komödien die Kinoleinwände und im Vergleich zu unseren Nachbarn aus England oder Frankreich, ist die deutsche Filmlandschaft viel zu eintönig. Doch es gibt sie. Fernab der großen Publikumserfolge, finden sich die kleinen deutschen Perlen wieder, die zeigen wie gut der deutsche Film eigentlich sein kann. Und alle paar Jahre erleben wir dann sogar ein ganz großes Highlight, wie 2015 mit "Victoria" oder 2016 mit "Toni Erdmann". Im Jahr 2019 kommen wir wieder in den Genuss eines solchen Highlights, das auf den Namen "Systemsprenger" hört. Nora Fingscheidts Spielfilmdebut geht für Deutschland im kommenden Jahr sogar ins Oscar-Rennen. Dabei geht man mit der Nominierung aufs Ganze, denn für die Academy-Mitglieder könnte dieser Film etwas zu sperrig sein. Die Wahl ist jedoch vollkommen gerechtfertigt, denn "Systemsprenger" ist eine wahre Naturgewalt von Film. Ein ungeschönter Blick auf das deutsche System im Umgang mit Problemfällen, getragen von einer erst elfjährigen Hauptdarstellerin die furios aufspielt.

 

Der Start von "Systemsprenger" gestaltet sich erstmal als schwierig. Immerhin lernt der Zuschauer die neunjährige Bernadette, nur Benni genant, bei einem ihrer Wutanfälle kennen, bei dem sie einige Bobby Cars gegen Fensterscheiben schleudert und aus voller Inbrunst schreit. Daran muss man sich erst einmal kurz gewöhnen. Nach ein paar Minuten ist man jedoch drin in der Geschichte um ein junges Mädchen, dass von Erziehungsheimen zu Pflegefamilien geschickt wird und trotzdem nirgends ihren Platz findet. Das Drama basiert zwar auf keinen realen Begebenheiten, der Begriff "Systemsprenger" existiert jedoch im deutschen Erziehungssystem und wird für die härtesten Problemfälle angewandt, für die im System einfach kein Platz zu sein scheint. So geht es auch der kleinen Benni, die sich eigentlich nichts sehnlicher wünscht als zuhause bei ihrer Mutter und ihren beiden kleinen Geschwistern zu leben, dass aufgrund der mentalen Verfassung der Mutter jedoch nicht kann. Und so wird Benni von einer Einrichtung zur nächsten weitergereicht, bis sie auf den Anti-Aggressionstrainer Micha trifft, der mit ihr drei Wochen in den Wald geht. Wer nun aber glaubt, die Geschichte mündet in ein Happy End, der sei vorgewarnt. Passend zum ungeschönten Blick auf unser Erziehungssystem, geht das Drehbuch am Ende glücklicherweise auch keine Kompromisse ein. Die Drehbuchautorin und Regisseurin Nora Fingscheidt, sorgt stattdessen für ein Gefühl der Machtlosigkeit und entlässt ihr Publikum fast schon mit einem Gefühl der Ohnmacht aus dem Kinosaal. 

Das liegt in erster Linie daran, weil man die kleine Benni so ungemein ins Herz schließt. Ein riesen Kompliment für "Systemsprenger", denn ein solch schwieriges Kind, mit ihren unkontrollierten Wutanfällen, kann auf der Leinwand auch sehr nerven. Doch Benni ist alles andere als nervtötend und wie Micha, entwickelt auch der Zuschauer Rettungsphantasien. Denn hinter den Wutanfällen, steckt im Kern ein verdammt cooles Mädchen, dass sich von nichts und niemanden verbiegen lässt und auch sehr viel Liebe geben kann. Und so leidet man mit Benni nicht nur mit, die für ihre Situation nämlich am aller wenigstens kann und trotzdem am meisten darunter leidet, sondern man lacht auch mit ihr mit. Ein Gefühlsmix durch den sich Benni schnell in die Herzen der Zuschauer spielt. Dabei muss das Drehbuch auch gar nicht auf die Tränendrüse drücken, wie das sonst so viele Problemfilme und Dramen gerne machen, stattdessen bewegt und beschäftigt der Film den Zuschauer auch so noch weit nach dem Abspann. Jetzt muss man dazu sagen, für einen entspannten Feierabend ist der Film natürlich nicht geeignet. Dafür ist "Systemsprenger" viel zu unangenehm und sperrig, wer jedoch ein wahnsinnig gutes Drama sehen will, mit einem realitätsbezogenen Thema, der wird mit "Systemsprenger" mehr als glücklich werden. Zumal der Film über 118 Minuten hinweg hervorragend unterhält und dabei keine Sekunde zu lang ist. Stattdessen fegt der Film wie eine Naturgewalt über seinen Zuschauer hinweg, der den Blick einfach nicht von der Leinwand heften kann.

Dabei ist die Inszenierung von Nora Fingscheidt eher zurückhaltend. Bennis pinke Jacke dient als visuelles Ausrufezeichen, ansonsten fährt der Film keine großen Bildkompositionen auf. Schlecht ist die Inszenierung dadurch jedoch nicht, denn der etwas biedere visuelle Eindruck, passt wunderbar zum realistischen Szenario in dem "Systemsprenger" nunmal spielt. Am Ende ist "Systemsprenger" sowieso der Film von Helena Zengel. Was die elfjährige Schauspielerin hier abliefert, ist schlichtweg phänomenal und sie spielt quasi mühelos gestandene deutsche Schauspieler wie Barbara Philipp ("Tatort") und Maryam Zaree ("4 Blocks") an die Wand. Das Schauspiel des kleinen "Kampfzwerges" ist einfach ungemein intensiv. Zum einen in den Momenten der Wutanfälle, in der sie sich die Seele aus dem Leib schreit, zum anderen aber auch in den ruhigen Momenten, in denen sie mit wenigen Worten zeigt, wie es unter der Oberfläche von Benni aussieht. Eine furiose Performance mit der sich Zengel nicht einmal hinter Joaquin Phonix' Joker verstecken müsste und ihr hoffentlich sämtliche Preise einheimst. Sie ist das Herz und die Stimme des Films. Kein Wunder also, dass die Kleine nun einen Hollywood-Western an der Seite von Tom Hanks dreht!

 

Fazit

Nora Fingscheidt entlässt den Zuschauer weder mit einem guten, noch einem schlechten Ende aus dem Kinosaal. Stattdessen mit einem Gefühl der Ohnmacht, dass ich beim Verlassen des Kinos so noch nie hatte. Ein größeres Kompliment kann man einem Film heutzutage kaum machen. Mit dem Abspann war es mucksmäuschen still im Kino, weil am Ende eine Art Rat- und Machtlosigkeit herrscht. "Systemsprenger" ist ein außergewöhnlicher Film, der nichts beschönigt und gleichzeitig wie eine Naturgewalt über den Zuschauer hinwegfegt. Nora Fingscheidts Spielfilmdebut lebt von einem großartigen Drehbuch und der furiosen Performance der elfjährigen Hauptdarstellerin Helena Zengel. "Systemsprenger" hallt noch lange nach und ist der vielleicht beste deutsche Film seit "Victoria". Die Oscar-Daumen sind gedrückt!

 

9/10


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Poster&Trailer: © Port au Prince / 24 Bilder